Stele 12: Neustadt
Lienaupark
Der letzte Abschnitt des Todesmarsches von Auschwitz an die Ostsee führte nach Neustadt in Holstein. Dort wurden die Häftlinge auf drei manövrierunfähige Schiffe geladen. Diese lagen ein paar Kilometer vom Ufer entfernt in der Lübecker Bucht. Auf das Passagierschiff „Cap Arcona“, die Frachter „Athen“ und „Thielbeck“ wurden etwa 7.000 Menschen aus 24 Nationen gebracht. Die meisten Häftlinge kamen aus dem Hamburger KZ Neuengamme und seinen zahlreichen Außenlagern. Auch Häftlinge aus dem Konzentrationslager Stutthof bei Danzig sowie die osteuropäischen Häftlinge aus Auschwitz-Fürstengrube und Mittelbau-Dora wurden gezwungen, an Bord der drei Schiffe zu gehen.
Am 3. Mai kam es zur Katastrophe. Nicht rechtzeitig informiert, dass sich an Bord der Schiffe KZ-Häftlinge drängten, wurden diese von der britischen Luftwaffe bombardiert.
Benjamin Jacobs (Berek Jakubowicz) erinnerte sich:
„Wir hörten einen lauten Knall und das ganze Schiff bebte. Ich hörte Schreie, das Boot sei von Torpedos getroffen worden. Hunderte Gefangene drängten sich aufs Hauptdeck. Plötzlich sahen wir Flugzeuge. Es waren britische Bomber.
Wir brüllten, wir sind KZ-ler! und warfen unsere gestreiften Mützen in die Luft. Aber es gab keine Gnade. Die Briten haben ihre Bomben abgeworfen und die ganz Cap Arkona brannte und bebte.“
Sam Pivnik (Szlamek Pivnik) erinnerte sich:
„Als das Bombardement des Schiffs begann, gelang es mir, auf das obere Deck zu klettern. Ich rief meinen Freunden zu, sie sollten auch hochklettern, weil das Schiff brannte. Die meisten Menschen aber steckten in einer Falle in den unteren Decks. Es gelang ihnen nicht, nach oben zu kommen. Ich sprang in das Wasser und klammerte mich an ein Stück Holz. Der Wind half mir, mich zur Küste von Neustadt zu treiben. Die meisten Menschen auf dem Schiff verbrannten oder ertranken.
Deutsche Polizei kam auf Booten und schoss auf Überlebende, die im Wasser schwammen. Die Deutschen schossen auch auf diejenigen, die es geschafft hatten, das Land zu erreichen. Ich erkannte unter den Häftlingen, die am Strand erschossen wurden, zwei Brüder, zwei Tschechen, der Rapportschreiber und ein Blockältester aus Fürstengrube. Sie hatten sich wie so viele aus dem Wasser retten können und wurden dann ermordet. Nur weil ich weglaufen konnte, wurde ich nicht auch erschossen.
Wenig später kamen Lastwagen angefahren. Die Fahrer brachten uns in Marine-Baracken. Inzwischen war es Nacht geworden. Die anderen Überlebenden und ich schliefen in den Baracken. Am nächsten Tag wurde uns klar, dass wir frei waren, denn die britischen Streitkräfte hatten die Stadt übernommen.“
Der Widerstandskämpfer Rudi Goguel, KZ_Häftling aus Neuengamme, berichtete:
„Die Zustände an Bord auf den Schiffen waren grauenvoll. Es gab kaum etwas zu essen und zu trinken. Überall lagen auf der Cap Arcona die entkräfteten Gefangenen herum. Auf dem Deck begannen sich die Leichen zu stapeln, denn täglich wurden 15 bis 30 Tote gezählt. Gegen Ende stieg die Todeskurve steil an. In einer besonders schlimmen Lage waren die Kranken: Sie hatte man unten im Schiffsbauch untergebracht, und es bestand wenig Möglichkeit, ihnen noch wirkliche Hilfe zuteil werden zu lassen, da es keine Medikamente und Verbandsstoffe gab. Niemand leerte mehr die schweren Kotkübel, so daß sich ein fürchterlicher Gestank über dem Schiff ausbreitete. Die russischen Häftlinge wurden im sogenannten Bananenbunker untergebracht, einem Raum ohne Luft und Licht.... Nicht viel anders war die Lage auf den beiden anderen Schiffen...
Das ganze Schiff zitterte wie bei einem Erdbeben. Kurz hintereinander bekamen wir zwei oder drei Treffer. Es waren hochbrisante Bomben, und es brannte gleich an mehreren Stellen. Die Häftlinge stürzten aus den Kabinen auf die Gänge. Da die Gänge sehr schmal waren, gab es ein großes Geschrei und Gedränge...
Der Brand breitete sich in unheimlicher Gewalt über das ganze Schiff aus. Von den russischen Häftlingen tief unten im Bananenbunker gelang nur ganz wenigen der Durchbruch nach oben. Die etwa 700 Sterbenden und Schwerkranken, die im D-Deck untergebracht waren, sahen sich dem Feuer hilflos preisgegeben...
Lebenden Fackeln gleich, irrten die Menschen durch das Schiff. Über Tote und Verwundete stolpernd suchten sie einen Weg in die Freiheit. Doch nur wenigen gelang dies. Die meisten stürzten in einer Ecke zusammen und starben des gräßlichsten Tod, den Tod durch Verbrennen....
Hunderten von Häftlingen, Wachmännern und Besatzungsmitgliedern war es gelungen, ins Wasser zu springen. Rund um das Schiff war die See besät mit Köpfen von verzweifelt um ihr Leben kämpfenden Menschen und mit schwimmenden Trümmern von Rettungsbooten, Holzplanken, herrenlosen Rettungsringen und Schwimmwesten. Die Luft war erfüllt vom Brüllen der Flammen auf dem Schiff und von den Hilferufen der Menschen. Jeder versuchte, sich irgendwo anzuklammern. Es finden erbitterte Kämpfe um jedes Stück Holz statt. Viele, die in nächster Nähe des Schiffes schwimmen, werden von den Brettern und Balken erschlagen, die die noch auf dem Schiff befindlichen Häftlinge über Bord werfen. Andere, die den Sprung in die Tiefe wagen, schlagen mit den Köpfen auf die Trümmer auf und versinken alsbald in den Fluten...“
Die „Cap Arcona“ wurde so beschädigt, dass sie sich brennend zur Seite legte. Die „Thielbek“ sank innerhalb von 15 Minuten. Die Häftlinge der „Athen“ schafften es, eine weiße Fahne zu hissen und wurden nicht bombardiert. Von den 7.000 bis 10.000 Häftlingen an Bord der drei Schiffe überlebten etwa 500 Häftlinge. Die Toten wurden auf Friedhöfen in verschiedenen Orten entlang der holsteinischen und mecklenburgischen Ostseeküste bestattet.
Quellen:
Zitat Benjamin Jacobs (Berek Jakubowicz): Benjamin Jacobs and Eugene Pool: „The 100-Year Secret. Britain’s Hidden World War II Massacre” , The Lyons Press Guilford, Connecticut, 2004.
Zitat Sam Pivnik (Szlamek Pivnik): Gespräch mit dem Zeitzeugen während seines Besuchs In Ahrensbök, Dezember 2001.
Zitat Rudi Goguel: Aus „Cap Arcona: Report über den Untergang der Häftlingsflotte in der Lübecker Bucht am 3. Mai 1945“, Röderberg-Verlag, Frankfurt am Main, 1982.