EIN KONFIRMATIONSUNTERRICHT UND SEINE FOLGEN 
DIE BÜRGERINITIATIVE GRUPPE 33 WURDE ZUM TRÄGERVEREIN DER GEDENKSTÄTTE
 
Kaum zu glauben, dass alles mit einer Konfirmandenstunde im Frühjahr 1996 begann. Der damalige Ahrensböker Pastor Michael Schwer sprach mit den Jugendlichen darüber, dass Jesus jüdisch war. Als eine Konfirmandin keifte, was Scheißjuden in einer deutschen Bibel zu suchen hätten und andere Jugendliche nickten, erkannte Schwer eine Aufgabe. Er unternahm mit seinen Konfirmanden einen Kreuzweg zu Stätten des Nationalsozialismus in Ahrensbök, besuchte dabei eine Fabrik, in der Zwangsarbeiter gelebt, gearbeitet und gelitten hatten, stieß schließlich auf ein marodes Gebäude am Ortsrand, das 1933 ein frühes KZ beherbergt hatte. Und er hörte erstmals von dem Todesmarsch, der 1945 durch Ahrensbök gezogen war. Ein Informationsabend mit dem Regionalforscher Gerhard Hoch aus Kaltenkirchen folgte; Hoch hatte 1990 in seinem Buch „Von Auschwitz nach Holstein“ den „Leidensweg von 1200 jüdischen Häftlingen“ aus dem Auschwitz-Nebenlager Fürstengrube erforscht und aufgeschrieben.

Ein Brief für die Menschlichkeit
Es dauerte ein Jahr, bis der Kreis um Schwer an die Öffentlichkeit trat. Ein Brief für die Menschlichkeit war konzipiert, von fast fünfzig engagierten Leuten unterschrieben und durch Vermittlung von Hoch an drei Überlebende geschickt worden:

Sehr geehrter Herr van Hoey, sehr geehrter Herr Koopman, sehr geehrter Herr Pivnik,
nach dem Volkstrauertag im vergangenen November hielt Herr Gerhard Hoch aus Alveslohe hier in Ahrensbök auf Einladung der evangelischen Kirchengemeinde und des Kulturkreises
Ahrensbök e. V. einen bewegenden Vortrag über den Todesmarsch von Auschwitz/Fürstengrube über Blankenburg nach Holstein.
Vermutlich zum ersten Mal seit dem April 1945 stellten sich in einer öffentlichen Veranstaltung Menschen, die in und um Ahrensbök leben, dem Grauen dieses Todesmarsches, um darüber zu sprechen.
Durch Herrn Hoch lernten wir Ihre Namen kennen und es entstand unter uns Teilnehmerinnen und Teilnehmern das Bedürfnis mit Ihnen, den uns bekannten Überlebenden, in Verbindung zu treten. Mit diesem Brief möchten wir Ihnen versichern, daß in Ahrensbök die Erinnerung an den Todesmarsch wach ist. Und wir vergessen nicht, daß Ihnen und ungezählten anderen unmenschliche Gewalt und himmelschreiendes Unrecht im Namen des deutschen Volkes angetan wurde. Wir sind voller Scham, wenn wir des unvorstellbaren Leides gedenken.
Empörung erfüllt uns, weil die Verbrechen der SS und aller Tatbeteiligten in unserem Land so weitgehend ungesühnt geblieben sind. Immer wieder will uns Sprachlosigkeit befallen, weil es in unserer Mitte uneinsichtige Täter und deren Gesinnungsfreunde gibt. Aber mit diesem Brief verpflichten wir uns Ihnen gegenüber, dem Ungeist des Antisemitismus und des Faschismus zu wehren und ihrer Menschenverachtung entgegenzutreten.
Bei der Frage, wie diese Verbrechen geschehen konnten und woher insbesondere der Haß auf die Juden kam, stießen wir auch hier auf die unheilvolle Rolle der evangelischen Kirche. Unsere Schritte damit umzugehen, sind unsicher, aber den kleinen Schritt auf Sie zu, der unser Schweigen beendet, den wollen wir tun. Wir fragen uns, wie sie mit diesen schrecklichen Erfahrungen heute leben und welche Empfindungen Sie uns gegenüber bestimmen.
Wir stehen mit dieser großen Schuld vor Ihnen und vor Gott.

Sam Pivnik antwortete. Er war der erste Zeitzeuge, der als Gast der inzwischen gegründeten Bürgerinitiative Gruppe 33, eines Arbeitskreises zur Zeitgeschichte in Ahrensbök, auf Einladung nach Holstein kam. Pivnik, Jahrgang 1926, der im April 1945 als Häftling des Todesmarsches aus Auschwitz durch den Ort getrieben worden war, wurde am 27. Juni 1998 offiziell von Bürgermeister und Bürgervorsteher, Wolfgang Frankenstein und Egon Rieger, in Anwesenheit von Gerhard Hoch empfangen.

Die Aktivitäten der Gruppe 33 waren keineswegs willkommen. Es gab Drohanrufe, Schmähbriefe, üble Nachrede und einen Ratschlag für den Pastor, den „Quatsch sein zu lassen“. Davon unbeeindruckt, begann die Gruppe 33 die Zeit zwischen 1933 und 1945 nach Jahrzehnten des Schweigens an lokalen Beispielen zu thematisieren. Zeitzeugen wurden in Schulen vermittelt, Erzählcafés eingerichtet, in denen Bürgerinnen und Bürger von eigenen Erfahrungen berichteten. Referenten sprachen über Themen wie Kriegsjahre, Kriegsverbrechen, Zivilcourage, um nur einige Beispiele zu nennen. Im Sommer 1999 organisierte die Gruppe 33 unter Leitung ihrer Vorsitzenden Barbara Braß das erste internationale Jugendsommerlager auf dem Gelände der ehemaligen Flachsröste in Holstendorf und dem dazu gehörenden einstigen Direktorenhaus, damals im Besitz des Holzhändlers Voges.

Eine Frage bewegte die Mitglieder der Gruppe 33 in dieser Zeit intensiv: Konnte man es wagen, ein historisch singuläres aber stark sanierungsbedürftiges Haus zu erwerben? Die Befürworter überwogen und gründeten am 8. Mai 2000 einen Trägerverein. Er erwarb mit öffentlichen Mitteln des Landes, des Kreises Ostholstein, der Gemeinde Ahrensbök das marode, zerfallende, seit Jahren leer stehende, unbeheizte ehemalige Direktorenhaus. Ein Jahr später, am 8. Mai 2001, wurde in diesem Gebäude die Gedenkstätte Ahrensbök eingerichtet. Zur Eröffnungsfeier kamen die Überlebenden Sam Pivnik aus England und Albert van Hoey aus Belgien.

8. Mai 2001: Pastor Michael Schwer eröffnet
in Anwesenheit der Überlebenden Albert van Hoey und Sam Pivnik die Gedenkstätte Ahrensbök


Die ersten Überlebenden, die die Gedenkstätte Ahrensbök besuchten:
Albert van Hoey (mit seiner Tochter) und Sam Pivnik während der Eröffnungsfeier 2001


Zwei Überlebende begegnen sich in Ahrensbök: Albert van Hoey und Sam Pivnik im Gespräch

Wie man damals den Mut aufbrachte, in einem solchen Haus eine Gedenkstätte einzurichten, verwundert viele bis heute. Es gab nicht wenige, die dem Projekt den baldigen Niedergang prophezeiten, ihm keine Zukunft wünschten. Sieben Jahre folgten, in denen die aktiven Mitglieder des Trägervereins die Löcher in den Mauern, in Dach und in Decken oft in Eigenarbeit notdürftig flickten und mit ihren Mitgliedsbeiträgen, Spenden und gelegentlichen kleinen öffentlichen Zuschüssen finanzierten. Sie hatten fleißige Helfer: Junge Leute des Bugenhagenwerks in Timmendorferstrand und die Teilnehmenden der jährlich wiederkehrenden internationalen Jugendsommerlager packten tatkräftig mit an.

Ende 2008 der Durchbruch: Die ostholsteinische Bundestagsabgeordnete Bettina Hagedorn, Mitglied des Trägervereins, vermittelte eine 50-prozentige Bundesförderung aus dem Sondertopf „Behebung eklatanter baulicher Mängel bei Baudenkmälern von nationaler Bedeutung“; die andere Hälfte musste erbettelt werden. Das Untergeschoss wurde renoviert und saniert. Zwei Jahre später erhielt der Trägerverein nicht rückzahlbare Zuwendungen des Landes Schleswig-Holstein im Rahmen des „Investitionsprogramm Kulturelles Erbe“, mit denen das Obergeschoss instand gesetzt wurde.

Die Widrigkeiten der Anfangszeit in einem unbeheizten, muffigen, feuchten Haus konnten die Mitglieder des Trägervereins nie entmutigen. Sie haben von Anfang an intensiv Gedenkarbeit geleistet. Vorrangiges Ziel war stets, insbesondere jungen Menschen - Schülern und Schülerinnen, Auszubildenden, Konfirmanden, Studenten – die nationalsozialistische Geschichte, wie sie vor Ort geschah, nahe zu bringen. Dabei müht sich der Trägerverein, einen Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen, um einen Beitrag zu leisten, dass Unrecht der Vergangenheit oder Ähnliches nicht wieder geschieht.

Damals wie heute ist die Begegnung mit Zeitzeugen fester Bestandteil der Gedenkarbeit des Trägervereins. Kamen anfangs Männer und Frauen, die den nationalsozialistischen Terror selbst durchlitten hatten, kommen heute ihre Kinder. Beispiel: Sohn und Tochter des holländischen Überlebenden Nicolaas Vos überließen dem Trägerverein Exponate aus dem Nachlass des Vaters. Beispiel Bogdan Siewierki, Sohn polnischer Deportierter. Als Gast des Trägervereins besuchte er den Hof in Siblin, auf dem seine Eltern jahrelang Zwangsarbeit hatten leisten müssen.

Seit Einrichtung der Gedenkstätte bieten die Mitglieder des Trägervereins ein vielseitiges Veranstaltungsprogramm mit Vorträgen, Sonntagsgesprächen, Filmvorführungen, Konzerten, Jugendtheater, wechselnden Ausstellungen zu Kunst und zeithistorischen Themen. Eine Bibliothek mit etwa 800 Büchern wurde zusammen getragen, eine Videothek enthält u. a. Filmdokumentationen Überlebender des Todesmarsches. Jeden Sonntag bieten Mitglieder Führungen durch die Dauerausstellungen an, die Anfang, Alltag und Ende des nationalsozialistischen Terrors an Beispielen aus Ahrensbök und Holstein dokumentieren.

Der Trägerverein und seine etwa siebzig Mitglieder besteht aus einem Kreis engagierter Frauen und Männer, die sich alle ehrenamtlich – ohne Aufwandsentschädigung, ohne Kostenerstattung - für ihre selbst gesteckten Aufgaben einsetzen. Regelmäßig jeden ersten Donnerstag des Monats treffen sich die Aktiven zur gemeinsamen Planung der Arbeit, mit der sie die Gedenkstätte mit Leben füllen; Interessierte können sich jederzeit in diesen Kreis einreihen. Täglich, während des ganzen Jahres, sind Besucher und Besuchergruppen willkommen, sich an Beispielen aus der Region zu informieren, dass die nationalsozialistische Diktatur nicht nur in fernen Ländern die Welt mit Terror überzog, sondern auch Orte wie Ahrensbök.
Februar 2017
 
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